27.04.20 Interview der Woche
Goalie Marco Wölfli erinnert sich an seine Anfänge bei YB, sagt, warum er nie ins Ausland wechselte – und erklärt, warum er auch weniger schöne Momente nicht aus dem Gedächtnis löschen möchte.

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"Wir machten viele Menschen glücklich"


Marco, erinnerst Du Dich an den 9. Oktober 1999?
Das muss der Tag sein, an dem ich bei YB mein Debüt in der ersten Mannschaft gab.

Exakt. Hast Du von damals noch ein paar Bilder im Kopf?
Ich war 17, und wir spielten in der Nationalliga B gegen Stade Nyonnais. Nach vier Minuten stand es 0:1, und ich hatte bis dahin keinen Ball berührt. Ich dachte: Das fängt ja gut an. Wenigstens war das Ende positiv. In der Nachspielzeit erzielten wir das 3:2.

Wie viele Zuschauer waren im Wankdorf dabei?
2'500?

Gut geraten. 2'050 waren es. Wie kommt Dir diese Zahl verglichen mit den heutigen Dimensionen vor?
Es war einfach eine andere Zeit. Für mich war das damals bereits etwas Grosses. Ich hatte das Gefühl, erwachsen zu sein. Aber wenn ich heute Fotos aus jener Zeit anschaue, muss ich lachen: Jö, herzig – da war ich noch ein Riesenbaby. (lacht laut)


Das wohl älteste Aktionsbild von Marco Wölfli als YB-Goalie entstand bei seinem zweiten Einsatz für die erste Mannschaft am 19. November 2000 gegen Locarno (2:1).

Was sagt Dir der 16. Juli 2003?
Uff… Du fragst Sachen…

Es ist das Datum Deines Super-League-Einstands bei YB. In St. Gallen gab es ein 4:1.
Stimmt!

Weisst Du, wer vor Dir verteidigt hat?
Meines Wissens waren das Disler, Knez, Eugster und Rochat. An St. Gallen habe ich noch eine besondere Erinnerung. Ein Jahr nach jenem 4:1 dribbelte ich im Espenmoos zwei, drei Meter vor unserer Torlinie zwei gegnerische Spieler aus. Ich war zwar noch jung, aber diese Aktion war für mich die Bestätigung, dass ich ruhig sein und mit Druck umgehen kann.

Würdest Du so viel Risiko auch mit 37 noch eingehen?
Das gehört ein bisschen zu meinem Stil. In der Champions League gelang es mir gegen Mario Mandzukic von Juventus. Wenn nichts passiert, machts auch nichts. (grinst)

Nun stehst Du vor dem Rücktritt. Und man kann sich das schwer vorstellen: YB ohne Wölfli…
...natürlich wird es eine Umstellung, auch für meine Mutter, die bei jedem Heimspiel im Stadion ist. Oder für meine Frau, die sich darauf einstellt, dass ich nun an den Wochenenden häufiger zu Hause bin. (grinst) Aber jetzt ist die Zeit reif für den Rücktritt.

Ganz verloren gehst Du YB ja nicht.
Genau. Es fanden erste Gespräche statt, in denen zum Vorschein kam, dass beide Seiten an einer Zusammenarbeit in anderer Form interessiert sind. Wir sprechen vom Gleichen.


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Muss es nicht zwingend eine Rolle als Goalietrainer sein?
Nein. Ich bin relativ offen. Vorstellbar ist, dass ich teilweise bei YB beschäftigt bin und daneben im Immobilienbereich tätig sein werde. Das ist meine zweite Leidenschaft. Wie die berufliche Lösung konkret aussieht, wird sich in den kommenden Monaten ergeben.

Du bist zwar seit 2017 nicht mehr die Nummer 1, aber weiterhin einer der Wortführer. Wie hast Du das geschafft?
Eines begriff ich früh: Erfolg ist nur möglich, wenn wir als Team funktionieren. Das wollte ich immer vorleben. Als Nummer 2 versuche ich, David von Ballmoos eine Hilfe zu sein. Gleichzeitig möchte ich der ganzen Mannschaft mit meiner positiven Art etwas mitgeben. Ich bin überzeugt: Ehrliche Arbeit zahlt sich aus.

Kann man als eigentliche Rivalen ein kollegiales Verhältnis pflegen?
Wieso nicht? Du bist mit dem Goaliekollegen so häufig zusammen. Wenn eine schlechte Stimmung herrscht, entsteht nur negative Energie. Ich hatte es mit allen immer gut, ob ich die Nummer 1 oder Nummer 2 war. Schliesslich sind wir ja ähnlich. Ich nenne uns Goalies positive Psychos. Wir machen alle das Gleiche durch, im Guten wie im Negativen. Ich kann nachfühlen, wenn dem anderen Torhüter ein Fehler unterläuft.

Du bist seit 1998, abgesehen von eineinhalb Jahren in Thun, bei YB. Über 20 Saisons bei YB – was löst das für Gedanken in Dir aus?
Es ist zugegebenermassen fast unglaublich, und es macht mich auch stolz, wenn ich bei vielen Leuten einen bleibenden Eindruck hinterlassen habe. Geplant war es nicht, die ganze Karriere bei YB zu verbringen. Als junger Fussballer hatte ich im Hinterkopf: Eines Tages gehe ich ins Ausland. Es sind die Träume, wie sie viele haben.


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Gab es oft Kontakte zu ausländischen Vereinen?
Es gab sie immer wieder, vor allem zu Zeiten, als ich Nationalspieler war.

Zu wem?
Es waren natürlich Dutzende… (strahlt und lacht).

Dann nenne uns doch zwei, drei dieser Interessenten.
Kaum hatte ich bei YB meinen ersten Profivertrag unterschrieben, meldete sich die AC Milan. Das löste einiges in mir aus, aber gleichzeitig sagte ich mir: Die Chance, bei Milan von den Junioren zu den Profis aufzusteigen, ist wohl sehr gering. Und einmal bot Schalke mir an, die Nummer 2 zu werden. Es ist zwar komisch, Schalke mitteilen zu müssen, dass das nichts für mich ist. Aber es war einfach so: Ich verlängerte bei YB den Vertrag jeweils mit voller Überzeugung und einem guten Gefühl. Nur das war relevant.

Obwohl Du anderswo mehr verdient hättest?
Mein persönliches Glück war mir wichtiger als ein Wechsel ins Ausland und ein grösserer Lohn. Ich bin nicht jemand, der etwas Gutes verlässt, weil er anderswo mehr verdienen könnte. Gelegentlich bekam ich zu hören, dass ich den einfachen Weg gewählt hätte, aber ich sehe das nicht so. Die Zeiten bei YB waren nicht immer nur rosig. Für mich waren sie aber auch eine Lebensschule. Ich war immer bereit, Verantwortung zu übernehmen. Es gab auch unangenehme Momente.

Zum Beispiel?
Als es nicht gut lief, stellte ich mich den Gesprächen mit den Fans. Es gab Phasen, da warteten welche beim alten Trainingsgelände in Schönbühl vor der Kabine auf uns, aber nicht, um uns auf die Schultern zu klopfen… Sie waren unzufrieden. Da konnte und wollte ich nicht einfach davonlaufen, obwohl ich noch sehr jung war. Solche Erlebnisse gehören zu meiner Geschichte, sie haben mich mitgeprägt.

Willst Du auch ein Vorbild sein?
Mir ist es wichtig, Werte zu haben wie Ehrlichkeit, Offenheit, Bescheidenheit, und diese Werte will ich leben. Ich möchte ein Vorbild sein und gerade auch meinen Kindern Dinge mitgeben.

Zum Beispiel?
Dass jeder Mensch gleich ist, egal, woher er kommt, welchen Beruf er hat, wie viel er verdient. Und: Du kannst im Leben nicht immer nur gewinnen, es ist nicht immer alles nur schön, aber es kommt darauf an, wie du eine kritische Phase bewältigst. Als vor zwei Jahren mein Vater starb, war das unheimlich traurig für mich, für die ganze Familie, die Verbundenheit mit ihm war enorm gross. Aber mein Vater wollte, dass wir weiter unseren Weg gehen und positiv bleiben. Darum haben wir diese schwierige Situation so gemeistert.

Du hast bei YB wahnsinnig viel erlebt. Welcher Moment ist der grösste überhaupt?
Der 28. April 2018, der Tag, an dem wir nach 32 Jahren erstmals wieder Meister geworden sind. Ich stehe gegen Luzern im Tor, halte beim Stand von 1:1 einen Penalty, wir schiessen das 2:1 – und dann diese Explosion der Emotionen. Ich bekomme jetzt noch Hühnerhaut! Im Frühjahr vertrat ich den verletzten David von Ballmoos, und der Druck, der auf mir lastete, war gross. Aber ich kam damit gut klar. Wir machten viele Menschen glücklich. Was gibt es Schöneres?

Gibt es auch Momente, die Du am liebsten aus dem Gedächtnis eliminieren würdest?
Nein. Es gibt solche, die ich verdränge. Verlorene Cupfinals oder Finalissimas zum Beispiel. Das schmerzte zwar extrem, ich schaute diese Bilder deutlich weniger oft an als jene vom 28. April 2018. Aber diese Episoden gehören eben auch zu meiner Geschichte. Sie zeigen mir: Es kommt nichts von allein.

Erzählst Du den Jungen bei YB von Zeiten, die düster und weniger lustig waren?
Das kommt vor. Ich sage ihnen, dass die vergangenen zwei Jahre keine Selbstverständlichkeit sind. Zwei Meistertitel, Champions League gegen Manchester United, Juventus – das alles ist nicht normal. Ich erlebte Momente, in denen der Gegner in unserem Stadion Meister wurde. Das ist gar nicht lustig. Gleichzeitig motiviert es, alles dafür zu tun, dass sich so etwas nicht wiederholt. Die Jungen müssen auch wissen: Wir müssen dann parat sein und zusammenhalten, wenn es nicht so gut läuft. Im Erfolgsfall ist es einfach, beste Freunde zu sein. Das gilt nicht nur für den Sport, sondern auch für das normale Leben.


Marco Wölfli auf dem Zaun vor der Ostkurve als "Capo".

Hast Du in Deiner Karriere einen Stürmer gefürchtet?
Nein. Ich sage allen dasselbe: Cristiano Ronaldo erzielt in jedem Match ein Tor – nur gegen YB ist ihm das nicht gelungen… Ich hatte nie Angst oder übertriebenen Respekt vor einem gegnerischen Stürmer.

Hast Du Dich dafür auf Duelle speziell gefreut?
Wenn, dann auf solche mit Kollegen aus der Nationalmannschaft, Alex Frei oder Marco Streller zum Beispiel. Im Spiel gingen wir quasi aufeinander los, danach reichten wir uns die Hand.

Du hast einst Oliver Kahn und Fabien Barthez als Deine Vorbilder bezeichnet. Wieso die beiden?
Kahn imponierte mir mit seinem Willen, seiner Präsenz und seiner Ausstrahlung. Barthez gefiel mir mit seiner fussballerischen Art und seiner Lockerheit. Zwischendurch lächelte er auf dem Platz. Eine Mischung der beiden ergäbe den perfekten Goalie.

Wer ist heute der weltbeste Torhüter?
Eine Zeitlang war es Manuel Neuer, aber dann hatte er eine schwierigere Phase. Davor war es Gianluigi Buffon. Auch Marc-André Ter Stegen ist stark. Allerdings kann ich jetzt nicht sagen: Der oder der überragt alle anderen.

Wärst Du gerne nochmals 25?
Ich fühle mich gut, ich bin glücklich, gesund, habe eine tolle Familie – darum: nein. Es ist gut so, wie es ist.

Interview aus dem YB MAG 3, 2019/20

[pd][sst]


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