17.05.20 Interview der Woche
Seit Sommer 2018 ist Gerry Seoane bei YB im Amt. Der 41-jährige Schweizer mit spanischen Wurzeln liebt es, Podcasts mit Grössen aus dem Fussballgeschäft zu hören. Und er hat gleich zwei Weltauswahlen zusammengestellt.

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"Eine gewisse Ungeduld ist bei allen spürbar"


Gerry, womit beschäftigst Du Dich gegenwärtig am meisten?
Mit dem gezielten Aufbau der Mannschaft nach einer langen Zeit, in der kein gemeinsames Training möglich war. Gleichzeitig beschäftigen mich Fragen: Wie geht es weiter? Wann? Was erwartet uns in den kommenden Wochen und Monaten? Täglich, ja fast stündlich gab es neue Meldungen, oft auch neue Meinungen und Spekulationen. Mit dieser Ungewissheit müssen wir irgendwie zurechtkommen.

Wie schwierig gestaltet sich eine Vorbereitung, wenn niemand weiss, wann Tag X genau sein wird?
Diese Herausforderung begleitet uns schon seit langem. Wir mussten unsere Planung immer wieder anpassen, sagten den Spielern aber auch immer: Wir orientieren uns stets an den neuesten Informationen der Behörden und machen das Beste aus der jeweiligen Situation.


Zuletzt Alltag: YB-Trainer Gerry Seoane beobachtet am Bildschirm seine Mannschaft beim Training.

Ermüdet der Zustand nicht langsam?
Ich hatte zu Beginn etwas Mühe. Inzwischen habe ich eine gewisse Lockerheit entwickelt und will Zuversicht ausstrahlen. Meine Hoffnung ist die, dass wir bald wieder spielen.

Bist Du wie ein Rennpferd, das vor dem Start mit den Hufen scharrt?
Eine gewisse Ungeduld ist bei allen spürbar, aber das werte ich auch als gutes Zeichen. Das betrifft nicht nur den Fussball, sondern die ganze Gesellschaft. Die Coiffeure waren froh, als sie wieder arbeiten durften, die Wirte sind glücklich, dass sie wieder Gäste im Restaurant empfangen dürfen - und der Sportler will das tun, was sein Beruf und seine Berufung ist. Er will Leistung abliefern, sich mit Konkurrenten messen, besser sein. Das ist sein Antrieb. Die Rückkehr in den gewohnten Trainingsbetrieb ist ein Schritt zurück in die Normalität.

Und schön ist es sicher auch, wieder die physische Nähe mit den Leuten zu haben.
Absolut. Ich hörte und las von vielen Spielern aus verschiedenen Ligen, dass sie vor allem eines vermissen: die Kabine, das Zusammensein mit den Kollegen. Und für mich als Trainer sind es die Diskussionen mit den Staff-Mitgliedern. Welche Lösung streben wir an? Worauf achten wir morgen im Training? Ein guter Koch kann daheim auch ein wunderbares Menü auf den Tisch zaubern, aber wenn sein Restaurant geschlossen bleiben muss, fehlt ihm am Ende die Bestätigung, wirklich gute Arbeit abgeliefert zu haben, das Kompliment zufriedener Gäste. Ähnlich ist es bei Fussballern. Sie möchten mit dem, was sie zeigen, ebenfalls ihr Publikum überzeugen.

Hast Du Dich ständig über die aktuelle Entwicklung der allgemeinen Lage auf dem Laufenden gehalten?
Ja. Ich habe viel gelesen und regelmässig die Pressekonferenzen des Bundesrats geschaut. Durch die Krise hat sich mir mit der Politik ein Bereich geöffnet, mit dem ich mich zuvor nicht derart intensiv auseinandergesetzt habe. Es war spannend, die Auftritte der Bundesräte zu verfolgen, zu beobachten, wie sie kommunizieren und welche Ausstrahlung sie haben.

Und Dein Fazit?
Sie erinnerten mich irgendwie an Trainer in unterschiedlichen Rollen. Und nach jeder Pressekonferenz hatte ich den Eindruck, dass dieses Gremium harmoniert. Es vermittelte mir den Eindruck, in dieser Lage die Souveränität zu bewahren. Der Bundesrat hat mir alles in allem sehr imponiert.

Du hast spanische Wurzeln, und die Heimat Deiner Eltern ist von der Krise besonders heftig erfasst worden. Wie sehr belastet Dich die Situation in Spanien?
Sie gibt mir zu denken. Ich habe viele Verwandte in Galizien, meine Eltern leben inzwischen wieder da. Die hohe Anzahl an Todesopfern… Es ist brutal. In Spanien herrschte bald einmal ein Mangel an Schutzmaterial für das Pflegepersonal, die Bilder aus Spitälern haben mich erschreckt. Wir haben in der Schweiz ein funktionierendes Gesundheitssystem, dafür müssen wir dankbar sein.

Deinen Eltern gehts aber gut?
Ja. Sorgen machte ich mir allerdings einmal, als sie mit Pensionären eine Reise nach Valencia machten. Bei uns wurde zu jener Zeit das erste Todesopfer gemeldet, in Spanien war das Coronavirus aber noch kaum ein Thema. Ich rief meine Eltern an und bat sie, früher nach Hause zu reisen. Zum Glück befolgten sie den Rat. Und jetzt bleiben sie konsequent daheim.


Gerry Seoane strahlt an der Seitenlinie Ruhe und Souveränität aus.

Welches ist das letzte fussballerische Bild mit YB aus der Vor-Corona-Zeit, das Du abgespeichert hast?
Das Testspiel gegen Winterthur am 13. März. An jenem Tag war durchgesickert, dass es zum Lockdown kommen wird. In Erinnerung ist mir, wie das Einfluss auf das Befinden der Spieler hatte. Es war eine Leere spürbar, ich merkte auch bei uns im Staff, was allen durch den Kopf ging: Bald wird der Stillstand verkündet… Ein paar Stunden später hatten wir diese Gewissheit.

Denkst Du gelegentlich auch an den 23. Februar zurück, an dieses spektakuläre 3:3 in St. Gallen?
Selten. Es ist ziemlich weit weg. Ich habe in diesen Wochen aus verschiedenen Spielen Sequenzen geschaut. Zuerst war meine Idee, eine Analyse unserer ersten Spiele des Jahres zu machen. Aber je länger die Pause dauerte, desto mehr reifte in mir der Entschluss, dass es nichts bringt. Weil ein Neustart, wenn er denn im Juni stattfindet, auch bedeutet, dass wir praktisch bei null beginnen.

Wie hattest Du Kontakt mit den Spielern?
Telefonisch, bei Live-Trainings via "Zoom" und mit einem Chat. Jeden Abend verschickten wir den Spielern das Trainingsprogramm für den nächsten Tag.

Wie hat die Mannschaft die lange Pause angenommen?
Es gab unterschiedliche Reaktionen. Einige Spieler sahen darin eine willkommene Gelegenheit, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen oder Projekte daheim umzusetzen. Andere wiederum hatten mehr Mühe, zum Beispiel Junge, die allein leben, ihre Familie nicht bei sich haben und sich vielleicht Sorgen machen. Mit ihnen hatten wir mehr Kontakt.

Hast Du selber auch ein paar Trainings absolviert?
Ja. Mindestens jeden zweiten Tag machte ich Sport, joggte, setzte mich auf das Spinning-Velo, zwischendurch gab es eine Yoga-Session. Es war mir wichtig, dass ich mich auspowern und dadurch die Gefahr deutlich verringern konnte, dass jemals schlechte Laune aufkommt.


Anweisungen im Trainingslager in Belek beobachtet von Nachwuchsspieler Pascal Schüpbach.

Wie hast Du Deinen extremen Wissensdurst gestillt?
Ich habe viel gelesen, Dokumentarfilme wie "The Last Dance" geschaut, der von den Chicago Bulls handelt und grossartig ist – und ich habe sehr oft Podcasts der spanischen Sender «Onda Cero» und «Cadena SER» gehört. Da kommen regelmässig Grosse des Fussballgeschäfts zu Wort, von denen ich lernen kann. Ich bin manchmal mit den Kopfhörern zu einem langen Spaziergang aufgebrochen und habe dabei zum Beispiel Jorge Valdano zugehört. Oder ich frischte mit Hörbüchern Dinge auf, die ich im Coachingbereich gelernt habe. Ich konnte die Zeit sehr gut nützen.

Ulisses Garcia hat gelernt, zu kochen und den Haushalt zu machen. Was für Talente hast Du entdeckt?
Ich habe neue Menüs kochen gelernt - dank Spielern.

Wie das?
Wir schlugen vor, dass wir zwischendurch gemeinsam kochen könnten und jeder sich via Zoom zuschalten kann, wenn er Lust darauf hat. Ein Spieler schlug zum Beispiel Thai-Curry mit Nudeln vor. Er erstellte eine Einkaufsliste für das Menü, und am Mittag machten wir uns an die Arbeit. Ich nahm daran teil, Christoph Spycher auch - und der Spieler, der das Gericht vorgab, erklärte via Zoom auch jeden Zubereitungsschritt. Es war jeweils köstlich.

Wer ist der beste Koch bei YB?
Es sind wohl Vincent Sierro und die zwei Nicolas: Bürgy und Moumi Ngamaleu. Wenn wir mit dem Kochen fertig waren, fotografierten wir das Essen im Teller, stellten die Bilder in den Chat - und dann gab es Noten. Mohamed Ali Camara kochte zwar nie mit, verteilte dafür umso fleissiger Zeugnisse. (lacht) Es war eine richtig coole Sache.

Was kann man aus der Coronakrise für die Zukunft lernen?
Es wäre wünschenswert, wenn das solidarische Denken beibehalten und ausgeprägt gelebt würde. Dass die Stärkeren den Schwächeren helfen, so stelle ich mir das idealerweise vor. Aber ob das tatsächlich so sein wird… Das müssen wir abwarten.


In Gerry Seoanes Legendenauswahl wäre der leider verstorbene Luis Aragonés ein möglicher Trainer.

Zum Schluss würden wir gern von Dir erfahren, wen Du in die Weltauswahl berufen würdest.
Kann ich eine Legendenmannschaft zusammenstellen?

Du darfst ein Team mit Legenden bilden. Und eines mit aktuellen Spielern.
Also, fangen wir mit den noch Aktiven an. Im Tor steht Marc-André ter Stegen, für mich eine klare Nummer 1. In der Viererabwehr von rechts: Trent Alexander-Arnold von Liverpool, im Zentrum halbrechts Sergio Ramos von Real Madrid, halblinks ist Virgil van Dijk von Liverpool gesetzt, und links verteidigt Alphonso Davies vom FC Bayern München, er hat eine grosse Zukunft vor sich.

Wie sieht das Mittelfeld aus?
Im Zentrum räumt Sergio Busquets vom FC Barcelona als Sechser ab, vor ihm nominiere ich Kevin De Bruyne von Manchester City. Auf der einen Seite spielt Kai Havertz von Leverkusen - und auf der anderen Bernardo Silva von Manchester City.

Und ganz vorne?
Lionel Messi, klar. Und Robert Lewandowski als Neuner.

Wer sind Deine Legenden-Allstars?
Ich nehme nur solche, die ich selber spielen sah. An Gianluigi Buffon kommen wir nicht vorbei. Vor ihm die Abwehrreihe mit Cafu, Fernando Hierro, Paolo Maldini, Roberto Carlos. Im Mittelfeld Zinédine Zidane, klar. Und ich war immer ein Fan von Pep Guardiola. Auf den Seiten brauchen wir zwei Götter… Ryan Giggs und David Beckham? Arjen Robben und Franck Ribéry? Nein, ich sage: Luis Figo. Und: doch Beckham. Und vorne schiessen der Brasilianer Ronaldo und Ruud van Nistelrooy die Tore.

Wer sind die Trainer dieser hochkarätigen Mannschaften?
Die aktuelle Auswahl verdient zwei Grosse: Jürgen Klopp und Pep Guardiola. Und einer meiner Lieblingstrainer, der es verdient hätte, die Legenden zu betreuen, ist leider 2014 verstorben: El Sabio de Hortaleza, der Weise aus Hortaleza - Luis Aragonés.

[pd][sst]


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