04.05.20 Interview der Woche
Für den 24-jährigen Linksverteidiger Ulisses Garcia ist Gelson Fernandes ein Vorbild - und er ist auch dankbar für Ratschläge von «Monsieur Spycher», wie er den YB-Sportchef respektvoll nennt.

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"In Bremen lernte ich, was besonders wichtig ist: Arbeit – und Geduld"


Wie verbringst Du als Fussballprofi die Wochenenden ohne Match?
Ich geniesse viel Zeit mit meiner Familie im Bewusstsein, dass dies in solcher Form nicht mehr möglich sein wird, sobald der Spielbetrieb wieder läuft. Ich habe auch gelernt, zu kochen und den Haushalt richtig zu machen. So kann ich meiner Freundin eine Stütze sein.

Hast Du ein Talent als Koch?
Es läuft wirklich nicht schlecht. Jedenfalls hätte ich nicht gedacht, dass ich innert wenigen Wochen doch schon einiges hinbekomme. Je mehr mir gelingt, desto mehr Spass macht es mir auch. Ausserdem lese ich viel.

Was am liebsten?
Allerlei Bücher, besonders gerne Biographien. Zuletzt war es jene von Lecrae, der als amerikanischer Gospel-Rapper Karriere macht.

Schaust Du auf Video auch Spiele aus der Vergangenheit?
Das kommt vor. Neulich habe ich den Schweizer 1:0-Sieg gegen Spanien an der WM 2010 in Südafrika in voller Länge gesehen. Das ist zwar schon fast zehn Jahre her, und doch gibt es einige Spieler, die immer noch aktiv sind.

Zum Beispiel der Torschütze von damals, Gelson Fernandes.
Genau.

Und Du wirst vermutlich besonders stolz sein auf ihn, weil er ein enger Vertrauter ist.
Unsere Familien sind sich sehr nahe. Wir zwei stehen ständig im Austausch, wir telefonieren wirklich sehr oft. Gelson hat immer ein Lächeln im Gesicht, er ist ein wahnsinnig positiver Mensch. Diese Einstellung habe ich zum Glück auch. Von ihm lerne ich viel, sowohl als Fussballer, der in seiner Karriere schon Grosses erreicht hat, aber auch im Leben neben dem Platz. Wir unterhalten uns oft auch über Dinge, die nicht unmittelbar mit dem Sport zu tun haben, zum Beispiel darüber, was man in seiner Freizeit Sinnvolles tun könnte. Oder wie ich mein Deutsch verbessern könnte.


Garcia entwischt Xamax-Mittelfeldspieler Haile-Selassie.

Hast Du auch schon ein YB-Spiel noch einmal angeschaut?
Nur eine Halbzeit des Europa-League-Spiels gegen den FC Porto, mehr bislang nicht. Derzeit lasse ich das eher ein bisschen sein. Wenn die Saison aber im Gang ist, setze ich mich nach einer Partie regelmässig nochmals vor den Fernseher und analysiere unsere Leistung.

Du hast in Deiner Karriere schon einiges gesehen. Du warst in Genf, Zürich, Bremen und Nürnberg, jetzt bist Du in Bern. Wo hat es Dir besonders gut gefallen?
In jeder Stadt erlebte ich eine eigene, spezielle Geschichte. Überall, wo ich war, erlebte ich Dinge, die mich mitprägten. Speziell war es in Zürich. Ich war ein 15-jähriger Junge, als ich bei GC ins Internat kam und im Nachwuchs von Trainern wie Sascha Müller, Johann Vogel und Boris Smiljanic enorm viel profitierte. In den vier intensiven Jahren, die ich dort verbrachte, wurde ich erwachsen. Danach kam an jeder Station etwas dazu. Nun fühle ich mich in Bern sehr wohl und bei YB im richtigen Klub.

Bist Du ein Abenteurer?
So würde ich mich nicht unbedingt bezeichnen. Aber ich habe sicher keine Angst, mich aus meiner Komfortzone herauszuwagen.

War der Weggang aus der West- in die Deutschschweiz ein solcher Schritt, der Wechsel von Servette zu GC?
Ja. Ich war sehr jung, ging mit ganz vielen Träumen und der Überzeugung, bei GC die ideale Ausbildung zu erhalten und auf das Leben als Profi vorbereitet zu werden. Es war sicher gut, dass ich keine Furcht kannte, ich wusste exakt, was ich wollte. Ängstlich war eher meine Mutter, die sich Sorgen um ihren Sohn machte und hoffte, dass es ihm weit weg von daheim auch weiterhin gut geht. Aber das ist normal.

War für Dich immer klar, dass Du Fussballprofi wirst?
Als Kind war es ein Traum. Ich sagte schon als Achtjähriger: Ich will Profi werden. Aber das sagt mancher. Irgendwann ist es kein Traum mehr, sondern ein Ziel, wenn man merkt, dass man immer besser wird. Mit 13, 14 realisierte ich, dass die Chance tatsächlich da ist.


Champions League mit YB: Ulisses Garcia im Duell mit Douglas Costa von Juventus.

Gab es daher nie einen anderen Berufswunsch?
Eigentlich nicht. Wenn ich nicht Profi geworden wäre, hätte ich einen Beruf in Verbindung mit dem Fussball gewählt, Physiotherapeut zum Beispiel. Dieser Sport fasziniert mich sehr.

Hattest Du als Junior ein Idol?
Ich bewunderte Zinédine Zidane.

Hattest Du nie Heimweh, als Du in jungem Alter auf einmal in Zürich gelebt hast?
Ganz am Anfang war es etwas schwierig, ohne Familie, ohne Freunde. Aber ich integrierte mich problemlos und sehr schnell. Deshalb hatte ich auch nie Heimweh. Ich bin jemand, der generell keine Mühe hat, sich an Neues zu gewöhnen.

War die Sprache auch nie ein Problem?
Doch, zu Beginn war Deutsch eine hohe Hürde. Aber ich hatte keine Wahl: Ich musste die Sprache rasch lernen, um mich in der neuen Umgebung verständigen zu können. Nach vier, fünf Monaten konnte ich auf Deutsch kommunizieren, und ich hatte im Internat auf dem GC-Campus in Kürze gute Kollegen gefunden.

Wie steht es mit dem Schweizerdeutsch?
Es war einmal ganz ordentlich. Aber mittlerweile bevorzuge ich eher Hochdeutsch. Schweizerdeutsch verstehe ich gut.

Der Wechsel von GC in die Bundesliga zu Werder Bremen wurde auch kritisch kommentiert. Skeptiker zweifelten, dass Du diesen Sprung schaffst.
Ja, ich weiss schon. Wenn ein 19-Jähriger ohne Super-League-Erfahrung in der Bundesliga einen Vertrag unterschreibt, gibt es automatisch Zweifel.

Hast Du Dich in einer stillen Minute auch gefragt: Mache ich wirklich das Richtige?
Ich zweifelte nie. In diesem Alter zerbrach ich mir nicht den Kopf, sondern hatte nur Lust darauf, auf höchstmöglichem Niveau Fussball zu spielen. Bremen war auf meinem Weg einfach die nächste Stufe. Darum verschwendete ich keine Gedanken an negative Szenarien.


Ulisses Garcia und Vincent Sierro feiern mit Topscorer Jean-Pierre Nsame.

Nennt man das jugendliche Unbeschwertheit?
Ich war unbeschwert, aber es war nicht so, dass ich mich blindlings in ein Abenteuer stürzte. Der Plan sah vor, dass ich behutsam aufgebaut würde, auch im Nachwuchs. Wobei mich stets der Ehrgeiz antrieb, so schnell wie möglich voranzukommen.

Was hast Du in Bremen vor allem gelernt?
Ich lernte, was in diesem Geschäft besonders wichtig ist, wenn man Erfolg haben will: Arbeit – und Geduld. Ein junger Spieler tut sich eher schwer, geduldig zu bleiben. Seit meiner Zeit in Bremen weiss ich aber: Wenn ich arbeite, arbeite und nochmals arbeite, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass ich eine Chance erhalte. Das rate ich jedem jungen Spieler mit Talent: Er muss sich im Klaren darüber sein, welche Voraussetzungen für eine gute Karriere zu erfüllen sind.

Lässt sich eine Laufbahn planen?
Man kann einen Plan zu Papier bringen, aber es gibt so viele Einflüsse, welche die Umsetzung schwierig machen. Ich funktioniere daher etwas anders, wenn ich von Planung rede. Oft ist es ein Feeling, das mir sagt, was ich tun soll, ich höre auf den Bauch, auf mein Herz. So war das, als der Wechsel zu YB zur Diskussion stand. Ich spürte, dass es für mich der ideale Verein sein würde.

Warum?
In den Gesprächen mit Monsieur Spycher bekam ich einfach ein gutes Gefühl. Ich stellte schnell fest, dass im Klub eine familiäre Atmosphäre herrscht. Zudem kannte ich einige Spieler aus gemeinsamen Zeiten in den U-Nationalteams. Und ich bin wieder zurück in der Schweiz, näher bei meinem privaten Umfeld. Es passte einfach. Und es hat sich alles als richtig erwiesen.

Christoph Spycher war selber einmal linker Verteidiger und absolvierte für die Schweizer Nationalmannschaft 47 Partien. Gibt er Dir ab und zu Tipps?
Absolut! Ich sass noch nie so oft im Büro eines Sportdirektors wie bei Monsieur Spycher. Er nimmt sich viel Zeit für jeden Einzelnen und gibt Ratschläge. Er spricht aus grosser Erfahrung. Ich schätze das so sehr wie den angenehmen Umgang mit ihm.

Du hast den Schweizer und den portugiesischen Pass, aber auch kapverdische Wurzeln. Welches ist Deine Heimat?
Die Schweiz. Ich bin zwar in Portugal geboren, aber als ich drei war, kam ich nach Genf. Dort wuchs ich auf, dort ging ich zur Schule. Aber ich besuche Portugal oft, da leben immer noch viele Verwandte von mir. Und gerne möchte ich wieder einmal auf die Kapverdischen Inseln.

Woher stammt Dein Vorname?
Ulisses ist ein portugiesischer Vorname, der ungefähr "Ulissesch" ausgesprochen wird. Ich habe schon ganz viele Versionen zu hören bekommen. In der Westschweiz bin ich "Üliss", andernorts bin ich "Üli", in Deutschland war ich "Ulli". Am liebsten mag ich die französische Version, also "Üliss" ausgesprochen.


Ulisses Garcia jubelt nach seinem tollen Treffer in St. Gallen.

Im Dezember bist Du das erste Mal Vater geworden. Was hat das mit Dir gemacht?
Die Prioritäten verschieben sich. Als Papa will ich das Beste für meine Tochter, sie soll ein schönes Leben haben. Ich merkte dadurch auch: Der Fussball ist wunderbar, aber es gibt daneben viele andere wunderbare Sachen. Zum Beispiel eben: Vater sein, zum eigenen Kind schauen zu dürfen. Sie empfängt mich immer mit einem grossen Lächeln, wenn ich nach Hause komme.

Dein Vertrag bei YB läuft noch bis 2022. Denkst Du daran, irgendwann wieder ins Ausland zu gehen?
Das ist eine Möglichkeit, aber ich mache heute keine Pläne, was in zwei Jahren sein wird. Ich hoffe, dass wir bald wieder spielen können. Auch wenn es zunächst wohl leider ohne Zuschauer sein wird. Natürlich ist es nicht dasselbe, in einem leeren Stadion antreten zu müssen. Zum Fussball gehören Fans, sie können einem zusätzliche Energie geben. Aber die Situation lässt es derzeit noch nicht zu. Geisterspiele wären ein erster Schritt zurück in die Normalität.

Zum Schluss habe ich noch fünf Entweder-oder-Fragen. Jordi Alba oder Marcelo?
Marcelo. Ich finde Real Madrid gut - und der Stil von Marcelo sagt mir einfach zu. Eine zeitlang war er für mich der beste Linksverteidiger der Welt. Ihm habe ich immer gerne zugeschaut.

Fleisch oder Fisch?
Fleisch. Neulich habe ich ein Menü mit Rindfleisch und Reis zubereitet. Es hat gut geschmeckt.

Lauftraining oder Kraftraum?
Ich wähle Kraftraum. Rennen im Match, das ist wieder etwas anderes, das mache ich gerne - aber da ist auch ein Ball im Spiel. (lacht)

Sommer oder Winter?
Ganz klar: Sommer. Bei Wetter, wie es zuweilen in Bremen herrschte, litt ich. Oh la la…

Film oder Buch?
Ich lese gerne und schaue gerne einen guten Film mit meiner Freundin - ich mag beides.

[pd][sst]


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